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Sunday, February 06, 2005

Auschwitz und die Atmosphäre der Distanz

Meine Schwester hat mich vor einigen Tagen auf einen Artikel hingewiesen, der zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in der Zeit erschienen ist. Geschrieben wurde er von Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Hier die letzten Abschnitte des Artikels, in denen der Autor von der 'doppelten' Distanz der deutschen Bevölkerung zu Auschwitz spricht. Ein interessanter und hochaktueller Denkanstoss.

Das fast zweijährige Verfahren in Frankfurt führte das Ausmaß der Verbrechen in Auschwitz der (west)deutschen Bevölkerung nachdrücklich vor Augen. Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Prozess national wie international zuteil wurde, hat wesentlich dazu beigetragen, dass Auschwitz zu dem Symbol nationalsozialistischer Verbrechen geworden ist.

Dabei entstand jedoch zugleich eine eigentümliche »Atmosphäre der Distanz«. Zum einen evoziert der Topos Auschwitz stets das Bild der »Todesfabrik«, in der gewissermaßen automatisch, täterlos gemordet wurde. Tatsächlich aber starb der größte Teil aller NS-Opfer nicht in den Gaskammern von Auschwitz oder Treblinka, sondern an Gräben und Grubenrändern, in Hinrichtungsbaracken und auf freiem Feld – gehängt, erschlagen, erschossen von Tätern, die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

Zum Zweiten, und dafür ist Mittelbau exemplarisch, fand das große Morden nicht nur »im Osten«, an der Peripherie des NS-Reiches statt, sondern auch in seinem Zentrum, mitten in Deutschland, vor aller Augen – und das nicht erst nach der Räumung der Lager im Osten, sondern schon lange davor. Seit 1942/43 wurden, unter der Regie von Rüstungschef Albert Speer, immer mehr KZ-Außenlager in der Nähe von Industriebetrieben eingerichtet. Im letzten Kriegsjahr war Deutschland von einem dichten Netz solcher Lager überzogen, deren Insassen Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten mussten.

Zur topografischen Entgrenzung des KZ-Systems kam die gesellschaftliche: Immer mehr Menschen verschwanden unter ständig neuen Vorwänden in den Lagern, und auch das Rekrutierungsfeld der Täter wurde sukzessive ausgeweitet. Etwa zwei Drittel der Wachmannschaften in Mittelbau stammten nicht aus den Reihen der SS, sondern waren Luftwaffensoldaten. Auch Polizeieinheiten und Zivilangestellte von Rüstungsfirmen wurden zur Bewachung herangezogen. Am Ende hatte das KZ-System des »Dritten Reiches« fast jeden erreicht: entweder als Opfer, als (Mit-)Täter oder als Zuschauer.

Nach dem Krieg wollte die deutsche Gesellschaft davon nichts wissen. Man lokalisierte die Verbrechen – sofern man überhaupt darüber sprach – »im Osten«, und der Täterkreis wurde auf »die SS« eingegrenzt. Vielleicht hatte die Rede von »den Verbrechen im Osten«, die sich seit den sechziger Jahren im Symbol Auschwitz verdichtete, jedoch nicht nur eine exkulpatorische Funktion, sondern bot die einzige Möglichkeit für die Zeitzeugengeneration, sich den Verbrechen überhaupt zu stellen.

60 Jahre nach Kriegsende allerdings ist es an der Zeit, der Forschung Rechnung zu tragen. Und dazu gehört auch die Einsicht, dass am 27. Januar 1945 Auschwitz zwar befreit wurde, für die meisten Häftlinge Auschwitz jedoch weiterging – Hunderte Kilometer westlich, mitten in Deutschland.

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